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Impuls zum 17. September 2023

Zum 24. Sonntag im Jahreskreis

Von Charles Borg-Manché, geistlicher Beirat, pax christi Diözesanverband München und Freising

Hinführung
„Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er gegen mich sündigt? Siebenmal?“ Mit dieser Frage von Petrus wird das heutige Evangelium eingeleitet. Petrus fragt Jesus nach einem Maßstab für Vergebung; er will wissen, an welchem Punkt die Grenze des Nicht-Mehr-Vergeben-Könnens erreicht ist. Die Antwort Jesu: „Ich sage dir nicht: Bis zu siebenmal, sondern bis zu siebzigmal siebenmal!“ Hier wird die Zahl Sieben als Zeichen der Fülle nochmals gesteigert. Mit anderen Worten: Es gibt für uns Glaubende keine Grenze für Vergebung – keinen Zeitpunkt, an dem ich sagen darf: Jetzt ist aber endgültig Schluss! Denn wir selbst leben jeden Tag davon, dass Gott uns immer vergibt – dass Gott mit uns Menschen nie Schluss macht. 
In der Parabel vom unbarmherzigen Diener zeigt uns Jesus dann auf, wie maß- und grenzenlos uns Menschen gegenüber Gottes Gnade und Barmherzigkeit ist – und andererseits wie kleinlich und engherzig unser eigenes Verhalten unseren Schuldnern gegenüber oft ist. Die Botschaft des Evangeliums will uns deutlich machen: Die täglich von Gott empfangene Vergebung bedeutet für uns Verpflichtung und Verantwortung – und zwar so sehr, dass der barmherzige Gott den zurückweist, der mit seinem Mitmenschen nicht versöhnend umgeht. 
Der Weg der Versöhnung ist meist ein langer und steiniger. Er verlangt von uns viel Geduld und einen langen Atem. Im Grunde ist er ein ständiges Element unserer Lebensbeziehungen. Martin Luther King hat einmal gesagt: “Vergebung ist keine einmalige Sache; Versöhnung ist ein Lebensstil.“ Von der Gründung an gehört der Geist der Versöhnung zur DNA unserer Friedensbewegung.

Lied
Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr (GL 422)
 
Aus dem Evangelium 
nach Matthäus (Mt 18, 21-35)
Petrus trat zu Jesus und fragte: Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er gegen mich sündigt? Bis zu siebenmal?
Jesus sagte zu ihm: Ich sage dir nicht: Bis zu siebenmal, sondern bis zu siebzigmal siebenmal.
Mit dem Himmelreich ist es deshalb wie mit einem König, der beschloss, von seinen Knechten 
Rechenschaft zu verlangen.
Als er nun mit der Abrechnung begann, brachte man einen zu ihm, der ihm zehntausend Talente schuldig war. Weil er aber das Geld nicht zurückzahlen konnte, befahl der Herr, ihn mit Frau und Kindern und allem, 
was er besaß, zu verkaufen und so die Schuld zu begleichen. 
Da fiel der Knecht vor ihm auf die Knie und bat: Hab Geduld mit mir! Ich werde dir alles zurückzahlen.
Der Herr des Knechtes hatte Mitleid, ließ ihn gehen und schenkte ihm die Schuld.
Als nun der Knecht hinausging, traf er einen Mitknecht, der ihm hundert Denáre schuldig war. Er packte ihn, würgte ihn und sagte: Bezahl, was du schuldig bist! Da fiel der Mitknecht vor ihm nieder und flehte: Hab Geduld mit mir! Ich werde es dir zurückzahlen. Er aber wollte nicht, sondern ging weg und ließ ihn ins Gefängnis werfen, bis er die Schuld bezahlt habe.
Als die Mitknechte das sahen, waren sie sehr betrübt; sie gingen zu ihrem Herrn und berichteten ihm alles, was geschehen war.
Da ließ ihn sein Herr rufen und sagte zu ihm: Du elender Knecht! Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen,
weil du mich angefleht hast. Hättest nicht auch du mit deinem Mitknecht Erbarmen haben müssen, so wie ich mit dir Erbarmen hatte? Und in seinem Zorn übergab ihn der Herr den Peinigern, bis er die ganze Schuld bezahlt habe.
Ebenso wird mein himmlischer Vater euch behandeln, wenn nicht jeder seinem Bruder von Herzen vergibt.

Gedanken zum Evangelium
Die Parabel, die wir gerade gelesen haben, setzt orientalische Verhältnisse voraus, die der Evangelist Matthäus bewusst übersteigert. Bei dem „König“ handelt es sich um einen orientalischen Herrscher, der über seine Diener, seine Hofbeamten und ihr Schicksal weitgehend verfügt. Der Diener mit der großen Schuld ist wohl Statthalter einer Provinz, der vielleicht wegen Veruntreuung die vorgeschriebene Steuersumme nicht abliefern kann, wofür er persönlich mit seinem Gut und Leben haftet, sogar mit dem seiner Familie.

10.000 Talente stellen eine ungeheuerliche Summe dar und sind wohl als denkbar höchste Zahl hier gewählt, um das Ausmaß der Schuld des ersten Dieners herauszustellen. Im Vergleich dazu betragen die Jahreseinkünfte Herodes des Großen etwa 900 Talente und das gesamte Steueraufkommen in ganz Galiläa und Perea nur 200 Talente. Dieser Diener kann also die Summe von 10.000 Talenten unmöglich wieder zurückerstatten. Das Versprechen, alles zurückzuzahlen, ist zwar gut gemeint, aber eher ein Wort in verzweifelter Not, um dem Einzug seiner Habe und dem Verkauf in die Sklaverei samt Frau und Kindern zu entgehen.

In scharfem Kontrast dazu steht die Situation des zweiten Dieners. 100 Denare sind eine verhältnismäßig kleine Summe – 1 Denar entspricht dem Tageseinkommen eines Arbeiters. Die Bitte des zweiten Dieners an seinen Kollegen ist also durchaus glaubwürdig. Da der Schuldner diese kleine Schuld nicht sofort bezahlen kann, handelt es sich hier wohl um einen kleinen Steuerpächter. Durch Würgen will ihn der erste Diener zu sofortiger Zahlung nötigen. Da aber die Schuld geringer ist, als man beim Verkauf in die Sklaverei erlösen würde, kann er den säumigen Schuldner nach damaligem Recht nur in Schuldhaft werfen lassen, bis er die Schuld abgearbeitet hätte. Dieses kleinliche, unbarmherzige Verhalten ruft die Empörung der anderen Diener hervor und führt zur Anzeige bei ihrem gemeinsamen Herrn.  

Das Drama in dieser Parabel vollzieht sich auf zwei Ebenen – auf der Ebene des Rechts und auf der Ebene der Gnade, die beide miteinander in Konflikt geraten. Am Anfang steht der Verzicht des Herrschers auf sein Recht – ein Akt bedingungsloser Gnade, der normales menschliches Verhalten weit übersteigt. Einem, der seine Verantwortung grob vernachlässigt hat, wird auf seine Verzweiflungsbitte hin die ganze ungeheuerliche Schuld erlassen – ohne Bedingung, ohne Verwarnung, ohne Amtsenthebung. Durch diesen Akt reiner Gnade wird die Gültigkeit des Rechts außer Kraft gesetzt. Durch dieses Gnadengeschenk wird es dem großen Schuldner überhaupt erst möglich, den kleinen Schuldner zu stellen. 

Auf der Ebene des Rechts wäre der Diener verloren, auf der Ebene der Gnade wird er frei. Er selbst aber handelt trotzdem auf der Ebene des Rechts – statt als Begnadigter selbst Gnade zu gewähren. Er besteht auf sofortiger Zahlung und trifft dabei die härteste ihm mögliche Strafmaßnahme. Damit entspricht er zwar dem Recht, handelt aber unbarmherzig. Und weil er allein auf der Ebene des Rechts handelt, fällt er aus der Ebene der Gnade wieder heraus. Er verfällt also konsequent dem selbst auferlegten Maßstab. So widerruft auch der König seinen Gnadenerlass und besteht ebenfalls auf seinem Recht. 

Mit dieser Parabel wendet sich Jesus gegen die selbstgerechte und unbarmherzige Weise der pharisäischen Frömmigkeit, die glaubte, vor Gott aus eigener Kraft bestehen zu können – eine Frömmigkeit, die dazu führte, Sünder in Israel abzuurteilen und aus der Glaubensgemeinschaft auszuschließen. Ähnlichen Tendenzen in seiner Gemeinde will der Evangelist Matthäus entgegenwirken. Mit diesem Gleichnis will er seinen Mitchristen einschärfen: Vor Gott sind wir Menschen alle Schuldner – wir alle leben aus seiner Gnade und Barmherzigkeit, aus seiner grenzenlosen Vergebung und Liebe. Als von Gott Begnadigte schöpfen wir Mut und Kraft, selbst Gnade zu gewähren und Barmherzigkeit vor Recht walten zu lassen. Denn Gottes Gnade und Barmherzigkeit spornen uns an, den ersten Schritt auf den Anderen zu zu wagen und wo nötig, auf eigene Rechte bewusst zu verzichten – damit Versöhnung möglich wird. 

Eine solche Einstellung verlangt von mir ein hohes Maß an Risiko und Wagemut. Sie öffnet mir einen Weg, der keinen Garantieschein auf Erfolg bietet und auch zum Scheitern führen kann. Und dennoch sehe ich als Christ keinen sinnvolleren Weg als Versöhnung in meinem Umfeld zu stiften, Menschen zur gegenseitigen Vergebung und Verständigung zu ermutigen. Denn für uns Christen ist der Verzicht Jesu auf eigenes Recht, sein Scheitern am Kreuz und die Bestätigung seines bedingungslosen Liebeswegs durch Gott in der Auferstehung der Ausgangspunkt einer zum Leben befreienden Bewegung – einer Bewegung, die nun trotz aller Schwächen schon über zwei Jahrtausende weiterwirkt und auch heute zu Versöhnung und Barmherzigkeit drängt. 

Im dichten Gestrüpp der Unversöhnlichkeiten unserer Zeit – ob im zwischenmenschlichen Bereich und im Leben der Familien, im Verhältnis zwischen Frauen und Männern – ob im wirtschaftlichen, politischen oder kirchlichen Bereich – ob im Verhältnis zwischen Konfessionen und Religionen oder im Verhältnis zwischen Völkern und ethnischen Gruppen – sehe ich keine bessere Alternative auf dem Weg zur Versöhnung als das Wagnis zum ersten Schritt, zum Dialog und zum Verzicht auf manches eigene Recht. 

Konkret und ungeschützt in unsere Zeit hineingedacht, frage ich mich: Was wäre beispielsweise:
  • Wenn jede und jeder von uns bei Konflikten in den Beziehungen zu Lebenspartner, Kind, Nachbar oder zu Arbeitskollegen den ersten Schritt wagen und nicht beharrlich auf das eigene Recht pochen würde?
  • Wenn Männer auf manche sich selbst genommene Rechte gegenüber Frauen verzichten und dadurch zu einer partnerschaftlichen Gesellschaft beitragen würden?
  • Wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer jeweils auf manche Rechte verzichten und stärker aufeinander zugehen würden?
  • Wenn Politikerinnen und Politiker von sich aus auf manche Privilegien und finanzielle Vorteile verzichten würden?
  • Wenn die politisch Mächtigen der Völker und ethnischen Gruppen in Europa und anderswo nicht mehr auf wechselseitige Aufrechnungen bestehen würden?
  • Wenn die Kirchenleitungen der christlichen Konfessionen auf manche festgelegte theologische Position verzichten und sich für andere Sichtweisen öffnen könnten? 

Das alles klingt ziemlich naiv. Dennoch ist es nicht auszudenken, welche befreiende und versöhnende Auswirkung für die betroffenen Menschen und für unsere ganze Welt ein solches Verhalten haben könnte! In diesem Zusammenhang muss ich immer wieder daran denken, dass damals nach dem 2. Weltkrieg Deutschlands Versöhnung mit Frankreich und Polen von vielen Menschen für eine naive Illusion gehalten wurde!

In seiner Botschaft zum Weltfriedenstag 1997 schrieb Papst Johannes Paul II: „Der dauerhafte Friede ist jedoch nicht nur eine Frage der Strukturen und Mechanismen. Er stützt sich vor allem auf die Annahme eines Stils menschlichen Zusammenlebens, der von gegenseitiger Annahme geprägt und zu freundlicher Vergebung fähig ist. Wir brauchen alle die Vergebung unserer Brüder und Schwestern, wir müssen daher alle bereit sein, selbst zu vergeben. Vergebung erbitten und gewähren ist ein Weg, der zutiefst der Würde des Menschen entspricht; manchmal ist es der einzige Weg, um aus Situationen herauszukommen, die von altem, gewalttätigem Hass gekennzeichnet sind.“ 

Wir wissen und erfahren es oft selbst: Dieser menschenwürdige Weg der Versöhnung ist oft ein sehr mühsamer, steiniger Weg, in dem nur wenig im Sinn von planbaren Schritten machbar ist. Daher erfordert er viel Geduld und Langmut, die Kraft zum langen Atem. Dieser Weg verlangt immer wieder auch den Mut zum schwierigen ersten Schritt.
Ich möchte uns alle heute dazu ermutigen, diesen mühsamen, aber lohnenden Weg der Versöhnung weiterhin miteinander zu wagen – in unseren Familien, im Leben unserer Kirche und unserer Bewegung, in unserem Verhältnis zu anderen kirchlichen und nichtkirchlichen Gruppen, in unserer vielfach unversöhnlichen Gesellschaft wie auch im politischen Bereich.
Schließen möchte ich mit folgendem Gedicht der deutschen Lyrikerin Christa Peikert-Flaspöhler: 

Weg zur Versöhnung
Ohne Waffen musst du gehen.
Ohne Schutz der Ausflüchte,
der Entschuldigungen,
der Behauptungen,
des Nichts-Wissens,
des eigenen Leides.

Mit ausgestreckten Händen musst du gehen,
die nichts als dein Bereitsein
für den Frieden tragen.

Mit einem Herzen musst du gehen, 
das Heimat geben will
dem Anderssein,
dem fremden Hoffen,
dem Rufen nach Gerechtigkeit,
den brüderlichen Lasten.

So musst du gehen!

ER wird bei dir sein.
Gebet
Menschenfreundlicher Gott!
Deine Liebe ist stärker als unsere Schuld.
Dein Name heißt Erbarmen. 
Du bist stets bereit, uns zu vergeben.
Ein streitsüchtiges, unversöhnliches Herz kann dich nicht verstehen. 
Hilf uns, mit deinem Auftrag zur Versöhnung ernst zu machen. 
Schenke uns den Mut zum langen Atem und die Kraft, den ersten Schritt zu wagen. 
Mache uns zu Botinnen und Boten deines Friedens in dieser Welt.
Darum bitten wir dich durch Christus Jesus, unseren Freund und Bruder. Amen. 

Segensspruch
Der Herr, der Barmherzige segne meine HÄNDE,
dass sie behutsam seien,
dass sie halten können, ohne zur Fessel zu werden,
dass sie geben können ohne Berechnung,
dass sie gewaltfrei handeln und trösten.

Er segne meine AUGEN,
dass sie Not und Leiden wahrnehmen,
dass sie das Unscheinbare nicht übersehen,
dass sie hindurchschauen durch das Vordergründige,
dass Andere sich wohlfühlen können unter meinem Blick.

Er segne meine OHREN,
dass sie seine Stimme im Alltag hören können,
dass sie hellhörig sind für die Stimme der Ausgeschlossenen,
dass sie verschlossen seien für den Lärm und die Lüge,
dass sie das Unbequeme nicht überhören.

Er segne meinen MUND,
dass er heilende Worte spreche,
dass er Versöhnung stifte,
dass nichts von ihm ausgehe, was verletzt und beleidigt,
dass er Anvertrautes bewahre.
Er segne mein HERZ,
dass es Wohnstatt sein seinem Geist,
dass es Wärme und Geborgenheit schenken kann,
dass es reich sei an Vergebung, 
dass es Leid und Freude teilen kann.

Das gewähre mir der barmherzige Gott – 
der Vater + der Sohn und der Heilige Geist. 
Amen.

(nach einem Text von Sabine Naegeli, evang. Theologin)

Lied: Sag ja zu mir, wenn alles nein sagt!
Sag ja zu mir, wenn alles nein sagt,
weil ich so vieles falsch gemacht.
Wenn Menschen nicht verzeihen können, 
nimm du mich an trotz aller Schuld.

Uns ist das Heil durch dich gegeben,
denn du warst ganz für Andere da. 
An dir muss ich mein Leben messen,
doch oft setz ich allein das Maß.

Gib mir den Mut, mich selbst zu kennen,
mach mich bereit zu neuem Tun.
Und reiß mich aus den alten Gleisen;
ich glaube, Herr, dann wird es gut.

Denn wenn du ja sagst, kann ich leben;
stehst du zu mir, dann kann ich gehen;
dann kann ich neue Lieder singen
und selbst ein Lied für Andere sein.

Zu viele sehen nur das Böse,
und nicht das Gute, das geschieht.
Auch das Geringste, was wir geben, 
es zählt bei dir, du machst es groß.

Drum ist mein Leben nicht vergeblich, 
es kann für Andre Hilfe sein.
Ich darf mich meines Lebens freuen 
und Andren Grund zur Freude sein.

Tu meinen Mund auf, dich zu loben
und gib mir deinen neuen Geist.

(Text: Diethard Zils, OP)